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Ungewissheit, Schmerz & Verlust: Von Westpreussen in die neue Heimat im Rheinland

Aktualisiert: 29. Sept. 2023

Meine Urgroßeltern Olga und Max stammen aus einfachen Bauernfamilien aus Westpreussen im heutigen Polen. Ihre Kindheit und das Leben in Westpreussen waren geprägt von Ungewissheit. Ihre Heimat wechselte mehrfach zwischen Deutschem Reich und Polen. Als das Gebiet zum Ende des zweiten Weltkriegs dann endgültig an Polen ging, mussten sie ihre Heimat verlassen. Nach einer qualvollen Flucht, langer Zeit in Flüchtlingsunterkünften und französischer Kriegsgefangenschaft siedelten sie später im Rheinland an.

Olga Gerusel Max Brunow Westpreussen
Meine Urgroßeltern Olga und Max Brunow im hohen Alter (Foto in Privatbesitz)

Mein Urgroßvater Max Eduard Brunow wurde am 2. Dezember 1908 abends um 20 Uhr in Klammer, einem Dorf nahe der Stadt Kulm in Westpreußen geboren (Archiwum Państwowe w Toruniu, 1908). Seine Eltern waren die Kleinbauern Gustav Reinhard Brunow und Rosalie Emma Hahn (Archiwum Państwowe w Toruniu, 1908). Rosalie war bereits 43 Jahre alt, als Max zur Welt kam (Kemmner, 2023). Er hatte mindestens neun Geschwister. Ende des Monats wurde Max zwischen Weihnachten und Neujahr getauft (Staatliche Archivverwaltung der Deutschen Demokratischen Republik, 1933).


Obwohl Max laut Geburtsurkunde und anderen offiziellen Dokumenten am 2. Dezember geboren wurde, feierte er seinen Geburtstag später immer erst einen Tag später, am 3. Dezember (Kemmner, 2023).


Das Dorf Klammer zählte damals mehr als 600 Bewohner (Klingenberg’s Verlag und Druck, 1905; Wolf, 2023) die in etwa 100 Wohnhäusern lebten (Jacobson, 1868). Die meisten der Bewohner lebten in bäuerlichen Verhältnissen (Klingenberg's Verlag und Druck, 1905). Das Dorf war vorwiegend evangelisch geprägt (Jacobson, 1868) und liegt etwa sieben Kilometer östlich der Stadt Kulm (heute Chelmno). Heute heißt das Dorf Klamry und gehört zu Polen.


Der ehemalige Wohnort von Max und seiner Familie in Klamry im heutigen Polen (Gerusel, 2021).


Ein Großonkel und seine Frau haben vor einigen Jahren den Ort besucht und konnten auch den ehemaligen Hof der Familie Brunow im heutigen Klamry finden. An dieser Stelle vielen Dank an Tante Moni und Onkel Paul für die tollen Fotos und die vielen Informationen. Die Adresse ist leider nicht mehr bekannt. (Gerusel, 2021)


Meine Urgroßmutter Olga Gerusel wurde etwa ein Jahr später, am 29. November 1909 in Podwitz geboren (Staatliche Archivverwaltung Der Deutschen Demokratischen Republik, 1909). Podwitz gehörte ebenfalls zum Landgemeinde Kulm und lag nur wenige Kilometer von Klammer entfernt (Wolf, 2023b). Der Ort hatte damals etwa 440 Einwohner (Wolf, 2023b). Das Dorf Podwitz heisst heute Podwiesk (Wolf, 2023b). Ihre Eltern waren die Kleinbauern Ferdinand Eduard Gerusel und Jeanette Amande Cziczlitzke (Staatliche Archivverwaltung der Deutschen Demokratischen Republik, 1909). Olga war das fünfte von acht Kindern der beiden. Jedoch waren zwei ältere Geschwister bereits vor Olgas Geburt verstorben. (Gerusel, 2021; Kemmner, 2023)


Olga wurde am 16. Dezember 1909 in der evangelischen Kirche in Groß Lunau getauft (Staatliche Archivverwaltung Der Deutschen Demokratischen Republik, 1909).


Die ehemalige evangelische Kirche in Groß Lunau (Musassi320, 2021).

Ihre Taufpaten waren Friedrich Barknow und Martha Cziczlitzke, geborene Hoffmann. Martha war die Frau ihres Onkels Albert (Staatliche Archivverwaltung Der Deutschen Demokratischen Republik, 1909). Friedrich war der Mann ihrer Tante Olga.


Olga Gerusel Max Brunow Martha Cziczlitzke
Familienstammbaum auf dem meine Verwandtschaft zu Olga und Max sowie die Verbindung zu Olgas Taufpaten Martha Cziczlitzke und Friedrich Barknow zu erkennen ist (eigene Darstellung).

Die Dorfgemeinschaften hatten meist eigene kleine Schulen. In Klammer gab es eine örtliche zweiklassige Schule (Klingenberg’s Verlag und Druck, 1905) und auch in Podwitz wird es eine Dorfschule gegeben haben.


Olga Gerusel Ferdinand, Willi und Ernst Gerusel Westpreussen Kulm Podwitz Schulklasse
Olga geht in eine Klasse mit ihren drei Brüdern Ferdinand, Willi und Ernst (Foto in Privatbesitz)

Olga ist auf dem Schulfoto in der hintersten Reihe, als zweites Mädchen von links zu finden. Sie ging in eine übergreifende Klasse mit ihren drei Brüdern Ferdinand, Willi und Ernst (die drei Jungs ganz vorne). (Gerusel, 2021; Kemmner, 2023)


Über ihre Kindheit und Jugend ist mir bisher nichts bekannt. Womit haben die beiden wohl als Kinder gerne ihre Zeit verbracht?


Gerusel Familie Westpreussen Podwitz Kulm
Olga (mittig) mit ihren Eltern Jeanette und Ferdinand und ihren Geschwistern Auguste, Friedrich, Ferdinand, Ernst und Willi (Foto in Privatbesitz).

Die Region Westpreussen, in der auch die Stadt- und Landgemeinde Kulm liegt, durchlief eine bewegte und bedeutende Geschichte. Das Westpreussische Landesmuseum beschreibt diese wie folgt: "Mit einigen Unterbrechungen bildete Westpreußen von 1772 bis zum Jahre 1920 eine preußische Provinz. Zu deren Vorgeschichte gehört einesteils die Herrschaft des Deutschen Ordens, der das Land seit 1231 in Besitz genommen, es christianisiert und kulturell entwickelt hat, und andernteils eine 1454 einsetzende, mehr als 300-jährige Phase, in der die Region an der unteren Weichel als „Prusy Królewskie“ (Königliches Preußen) mit der Polnischen Krone verbunden war. Deutsche und Polen hatten in dieser Region über lange Zeit meist einträchtig zusammengelebt.“ (Westpreussisches Landesmuseum, o. J.)

Das Gebiet Kulm wurde 1920 durch die Bestimmungen des Versailler Vertrags an Polen abgetreten und in Chelmno umbenannt. (Westpreußische Gesellschaft e.V., o. J.)


Ausführlichere Informationen und anschauliche Kartenausschnitte sind hier auf der Website des Westpreussischen Landesmuseum zu finden.


Die Abtretung des Gebietes an Polen brachte auch eine Änderung der Amtssprache mit sich. Auch in der Schule wurde nun auf polnisch unterrichtet. (Prause, 1997)


Viele Deutsche wanderten in den folgenden Jahren ins deutsche Reich aus. Während die Bevölkerung vor dem 1. Weltkrieg noch etwa zur Hälfte deutsch sprach, waren es Ende 1931 nur noch 15%. (Prause, 1997)


Wie sich die Stimmung zwischen der deutschen und polnischen Bevölkerung entwickelte, ist schwer zu beurteilen. Während einige Historiker den Standpunkt vertreten, dass die privaten und nachbarschaftlichen Beziehungen nicht unter der Spannung litten, sind andere der Auffassung, dass es sehr wohl ein angespanntes Verhältnis zwischen den Deutschen und Polen gab. Die damals dort lebende deutsche Bevölkerung fühlte sich von der polnischen Regierung diskriminiert und gründete daher Gruppen und Organisationen, die die deutsche Kultur aufrechterhalten sollten. Diese übernahmen mehr oder weniger schnell auch die Ideologie der Nationalsozialisten. (Prause, 1997)


Olga Gerusel Familie Westpreussen Kulm Podwitz
Olga (hinten links) mit ihren Eltern und Geschwistern (Foto in Privatbesitz).

Wie und wo sich Olga und Max in dieser turbulenten Zeit kennen- und lieben lernten, ist mir leider nicht bekannt. Ihre beiden Wohnorte waren jedoch nicht allzu weit voneinander entfernt.


Am 31. Dezember 1933 heiraten Max und Olga in Groß Lunau (Staatliche Archivverwaltung der Deutschen Demokratischen Republik, 1933), in der Kirche, in der Olga bereits getauft wurde. Beide sind gerade Mitte zwanzig und Olga ist bereits schwanger.

Olga Gerusel Max Brunow Heirat Groß Lunau
Olga und Max heiraten (Foto in Privatbesitz).

Zunächst lebt das Paar für etwa ein Jahr bei Olgas Eltern in Podwitz, dort kommt auch ihre erste Tochter Erika am 14. April 1934 zur Welt. Nur zwei Monate nach Erikas Geburt verstarb Max’ Vater Gustav Reinhard im Juni 1934. Kurz darauf zieht die kleine Familie zu Max’ Mutter Rosalie nach Klammer. Etwa ein halbes Jahr später pachten sie dann ein eigenes Grundstück, wo sie etwas länger als zwei Jahre bleiben. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)

Kurz vor der Geburt ihrer zweiten Tochter Waltraud, ziehen sie zurück zu Olgas Eltern in Podwitz. Etwa zu dieser Zeit stellten die beiden einen Ausreiseantrag. Viele Deutsche waren bereits ins Deutsche Reich ausgewandert, nun sahen auch Olga und Max die Vorteile darin. Der Antrag wurde 1938 genehmigt, sodass sie ihr Hab und Gut packten und am 1. Mai 1938 mit Onkel Willi, Olgas jüngerem Bruder, wegzogen. Über Schneidemühl (heute Pila) gelangte die Familie ins etwa 180km entfernte Märkisch Friedland (heute: Mirosławiec). (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Märkisch Friedland gehörte zu dem Teil von Westpreußen, der auch nach dem ersten Weltkrieg zum Deutschen Reich, zunächst Posen-Westpreußen, ab 1938 zur Provinz Pommern, gehörte (Haack, 1979). Zwei Jahren blieben sie dort. Olga berichtete später, sie habe dort täglich 13 Kühe gemolken und war nach zwei Jahren dieser anstrengenden Arbeit körperlich ausgebrannt. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Nur kurze Zeit später, Anfang September 1939 nahmen Einheiten der deutschen Wehrmacht die Stadt Kulm im Zuge der nationalsozialistischen Okkupation ein (Prause, 1997). Olga und Max entschieden sich, zurück in ihre Heimat Kulm zu gehen (Brunow, 1985), die Ende November wieder als deutsches Reichsgebiet deklariert wurde (Westpreußische Gesellschaft e.V. (0. J.).


Die Deutsche Besatzung dauerte mehr als fünf Jahre an. In dieser Zeit versuchten die nationalsozialistischen Machthaber aus dem Gebiet ein ausschließlich deutsches Gebiet zu machen und die polnische Bevölkerung umzusiedeln und auszurotten. (Prause, 1997)


In Max’ Geburtsort Klammer (Klamry) entstand 1939 die größte Massenhinrichtungsstelle des Kreises Kulm. Hier wurden mehr als 2.000 Menschen der polnischen Bevölkerung ermordet. Dazu gehörten viele Bauern und Arbeiter der umliegenden Dörfer sowie katholische Geistliche aus Graudenz. Sie wurden in einem Waldstück grausam erschossen und in Massengräbern verscharrt. Auch polnische Bewohner der Ortes Klamry waren unter den Opfern. Sicherlich kannte Max den ein oder anderen Nachbarn aus seinem kleinen Heimatort. Unter den Opfern aus Klamry waren Landwirt Laser, Michael Palaszewski, Marciszewski, Tarkowski und Wierzbowski. Heute findet sich an der Hinrichtungsstelle eine Gedenkstelle. (Prause, 1997)


Max, Olga und ihre Kinder scheinen zu den ersten ca. 400 Deutschen zu gehören, die bis zum 1. August 1940 (zurück) nach Kulm ziehen (Prause, 1997). Max beginnt eine neue Arbeitsstelle bei der Post (Brunow, 1985). Er verdiente dort jedoch nur 280 Mark und die kleine Familie war froh, Unterstützung von Olgas Eltern zu bekommen (Brunow, 1985).


Zunächst wohnten sie in der Ritterstraße in Kulm (heute: ul. Rycerska). Im September 1940 zogen sie in die Mühlenstraße 7 (heute ul. Młyńska), wo sie bis 1945 bleiben würden. Nur wenige Monate nach dem Umzug, im März 1941, wurde die dritte Tochter, meine Oma Anita, in Kulm geboren. (Brunow, o. J)


Marktplatz Kulm Westpreussen
Die Familie lebte nahe des Marktplatzes in Kulm (Malinowski, 1918)

Im September 1939 führte die deutsche Schulverwaltung eine Schulpflicht für alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren ein. In den Kulmer Grundschulen wurde fortan wieder auf deutsch unterrichtet. Erika, die im April 1940 sechs Jahre alt wurde, hat vermutlich ab Ostern die Grundschule Nr. 2 in der Schulstraße 12/14 besucht. Im Oktober 1941 wird die deutsche Grundschule von 248 Kindern in sieben Klassen besucht. Waltraud wird im Herbst 1943 sechs Jahre alt. Sie kommt zu Ostern 1944 in die Schule. (Prause, 1997)


Ende des Jahres 1941, seine jüngste Tochter Anita war gerade zehn Monate alt, wurde Max als Soldat eingezogen. Über seine Erlebnisse ist bisher nichts bekannt. Er kämpfte zum Ende des Krieges an der französischen Front. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Max Brunow Soldat
Max als Soldat im zweiten Weltkrieg (Foto in Privatbesitz).

Olga und die Kinder verbrachten die nächsten drei Sommer (1942-1944) von April bis Oktober bei Olgas Mutter Jeanette in Podwitz. Die Winterzeit verbrachten sie jedoch in Kulm, da sonst der Schulweg für die Kinder in der Kälte zu lang gewesen wäre. (Brunow, 1985)

Der Winter 1944/45 war eisig. Es herrschten Temperaturen bis zu -20 Grad Celsius (Dietrich & Lingnau, 2010). Die Rote Armee näherte sich der Stadt Kulm und ein Großteil der deutschen Bevölkerung musste fluchtartig ihre Heimat verlassen (Westpreußische Gesellschaft e.V. (0. J.).


Olga machte sich gemeinsam mit ihren drei Kindern Erika, Waltraud und Anita, ihrer Schwägerin Rosalie Gerusel (geb. Brunow) (Max’ Schwester) und deren vier Kindern Kurt, Adelheid, Anita und Paul, sowie mit ihrer Schwiegermutter Rosalie (Max’ Mutter) auf den Fluchtweg. Sie brachen am Samstag, den 20. Januar 1945 auf. Sie hatten Glück und bestiegen den letzten Zug in Kulm, dieser fuhr zunächst nach Mischke (heute: Mniszek), nur wenige Kilometer von Kulm entfernt. Dort wurde die Lokomotive angehangen. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Da Olga in der Umgebung Kühe bemerkte, wollte sie die Wartezeit nutzen, um diese zu melken um ihre Familie zu versorgen. Jedoch merkte sie schnell, dass ihr Zug bereits wieder losfuhr. Sie rannte dem Zug hinterher und konnte sich mit letzter Mühe hinten am Zug festhalten und mitlaufen. Nach einiger Zeit haben ihr zwei Männer zurück in den Zug geholfen. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


In ihrem Schreiben über ihre Flucht aus Kulm, beschreibt Olga, wie froh sie war, wieder bei ihren Kindern zu sein. Auch meine Oma Anita erinnerte sich zu ihren Lebzeiten noch gut an diese Situation, sie hatte große Angst ihre Mutter zu verlieren. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Flucht Westpreussen Kulm Olga Brunow
Ein Teil des Schreibens meiner Urgroßmutter Olga Brunow über ihr Leben und die Flucht aus Westpreussen (in Privatbesitz).

Nur wenige Tage nach ihrer Flucht, am 27. Januar 1945 erreichte die Sowjetarmee die Stadt Kulm. (Prause, 1997)


Über Frankfurt an der Oder will die Gruppe nach Stettin, wo Olgas Schwägerin Luise Brunow, genannt Tante Lieschen, lebte. (Brunow, 1985)


Ab dem 21. Januar trafen in Frankfurt an der Oder viele Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen ein. Zeitzeugen in Frankfurt (Oder) berichteten von einem fortwährenden Kommen und Gehen der Flüchtlinge, die teilweise Furchtbares erzählten. Viele waren tagelang durch Eis und Schnee marschiert. Nicht wenige Kinder waren auf der Flucht durch die eisigen Temperaturen erfroren. (Schröder, 2020)


Zehn Tage nach ihrer übereilten Flucht aus Kulm, kamen sie in Stettin an. Tante Lieschen holte die flüchtende Familie am Bahnhof ab. Sie blieben etwa einen Monat bei der Schwägerin in Stettin. Am 28. Februar mussten sie Stettin verlassen und kamen auf einem Dampfer nach Swinemünde. Von dort bestiegen sie einen Bummelzug nach Ribnitz-Damgarten. Bis Mitte Juni kamen sie dort, im Stadtteil Pütnitz, unter bis sie von den Russen wieder zurück in Richtung Stettin getrieben wurden. (Brunow, 1985)


Ihr Aufenthalt in Stettin ab Juni 1945 sollte nun etwa ein Jahr dauern. (Brunow, 1985)


Am 11. Oktober 1945 starb Olgas Schwiegermutter Rosalie. Der Winter war hart und die Familie hatte kein Geld für Nahrung, da hörte Rosalie einfach auf zu essen. Sie verhungerte aus eigenem Willen, um ihre Familie zu versorgen. Zehn Tage später starb Olgas Nichte, die fünfjährige Anita an einer schweren Mittelohrentzündung. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Da die Mütter Olga und Rosalie die jüngsten Kinder und Babys versorgten, waren Olgas älteste Tochter Erika und ihr ältester Cousin auf der Suche nach Essbaren. Immer mal wieder bekamen sie Kartoffelschalen geschenkt oder fanden etwas im Abfall. Auf ihrer letzten Suche nach etwas Essbarem wurde Erika von russischen Soldaten überfallen und vergewaltigt. Am 11. Januar 1946 erlag sie ihren dabei entstandenen inneren Verletzungen. Sie wurde nur 11 Jahre alt. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)

Erika Brunow
Erika Brunow ist mit nur 11 Jahren verstorben (Foto in Privatbesitz).

Die Zeit war für die ganze Familie sehr schmerzhaft. Auch vom Familienvater Max, der zur Armee eingezogen wurde, wusste der Rest der Familie nichts. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Am 10. Juni 1946, einem Pfingstmontag, kam die Familie, bestehend aus Olga und ihren beiden Kindern Waltraud und Anita sowie ihre Schwägerin Rosalie und ihren drei Kindern, in ein Flüchtlingsheim nach Rantum auf Sylt. Hier sollten Sie einige Zeit bleiben. Meine Oma Anita wurde auf Sylt eingeschult. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Durch Suchanfragen wusste Olga, dass Max in Frankreich war. Er hatte den Krieg körperlich unversehrt überstanden und war zum Ende des Krieges in französische Gefangenschaft gekommen. Er wurde frühzeitig entlassen, wenn er sich verpflichtet zehn Jahre in der dortigen Zeche zu arbeiten. Zu Weihnachten 1946 oder 1947 durfte er seine Familie jedoch auf Sylt besuchen. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Anfang Juni 1948 konnte er seine Familie dann zu sich nach L’Hopital in Frankreich holen. Olgas Schwägerin Rosalie blieb mit ihrer Familie noch sieben weitere Jahre bis 1955 auf Sylt.In Hamburg erhielten Olga und die beiden Kinder die dazu benötigten Papiere. Angekommen in Frankreich, lebte die Familie zunächst zwei Wochen im Lager und bekam dann das Allernötigste, wie Tisch, vier Stühle, einen Schrank und vier eiserne Bettgestelle sowie eine Baracke zugewiesen. Auf Olgas französischem Ausweis ist als Adresse die II, rue de Bastia vermerkt. Diese Adresse und die alte Barackensiedlung existieren jedoch heute nicht mehr. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Olga Gerusel Brunow Carte de Sejour de resident ordinaire
Olgas französischer Ausweis (in Privatbesitz).

Im Februar 1953 kommt eine weitere Tochter Jeannette Gerda in Frankreich zur Welt.


Weihnachten 1954 durfte die Familie Frankreich verlassen. Max wurde von Werbern aus dem Rheinland angeworben, in der Zeche Emil Mayrisch in Siersdorf bei Aldeshoven zu arbeiten. Er reiste mit Zug oder Bus dorthin, um sich die mögliche Arbeitsstätte anzusehen und entschied sich dafür. So machte sich die Familie auf in Richtung Rheinland. Zunächst reisten sie nach Aachen. Sie verbrachten etwa 14 Tage in der Nähe von Herzogenrath bei Aachen, dann etwa weitere zwei Wochen in Aldenhoven, bevor sie sich am 18. Januar 1955 in Setterich in der Ostlandstrasse ansiedelnden, nahe der Zeche Emil Mayrisch. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Für meine Oma Anita war der Umzug nach Deutschland sehr traurig. Sie hatte fast ihre gesamte Grundschulzeit in Frankreich verbracht, sprach mittlerweile fließend Französisch und hatte Freundinnen gefunden. Mit ihren Freundinnen Ruth und Lisbeth blieb sie ihr Leben lang in Kontakt. (Kemmner, 2023)


Die Zeche Emil Mayrisch in Siersdorf galt in den 1960er Jahren als eine der modernsten und leistungsfähigsten Anlagen Europas. Ihr bau begann bereits 1937, die erste Kohle wurde 1952 gefördert. (Gessen, o. J.)


Die Zeche Emil Mayrisch in Siersdorf (Grube Anna Bergbauinformationszentrum Alsdorf e.V., o. J.)

Olga und Max richteten sich und ihrer Familie ihr neues Leben in Setterich ein. Sie hatten Hühner, Enten, Gänse und Schweine und Max hat den Schinken selber hergestellt. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Olga hat gerne Groschenromane auf einem Holzschemel in der Küche gelesen. Dort war es wegen des Ofens immer gemütlich warm. Außerdem konnte sie dort ungestört lesen. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Die beiden hatten nur eine geringe Rente und daher wenig Geld. In ihrer Rente haben die beiden morgens ab drei Uhr täglich Zeitungen ausgetragen. Max hatte außerdem einen Job als Parkwächter, zu dem er seinen Schäferhund Anka mitnahm. Anka war ein Wachhund und wurde aus schlechter Haltung geholt. Sie lebte draußen im Zwinger und fraß alles, was essbar war. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Meine Mama erinnert sich, dass Olga recht ärmliches Essen kochte, etwa Buttermilchsuppe mit Stippe oder Pflaumen. Dafür hat sie jeden Samstag besonders leckeren Kuchen und Plätzchen aus den Zutaten aus ihrem Garten gebacken. Die Familie hatte neben dem eigenen Garten einen weiteren Garten beim Metzger Kleutner in der Ostlandstraße angemietet. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Zwar zogen Max und Olga auch in Setterich noch zwei Mal um, sie blieben jedoch immer in unmittelbarer Umgebung: Zunächst lebten Sie etwa zehn Jahre in der Ostlandstraße 3. Dort feierte auch meine Oma Anita noch ihre Hochzeit Anfang der 1960er Jahre. Von dort zogen Max und Olga mit ihrer jüngsten Tochter Jeannette in die benachbarte Glückaufstraße. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Dort pflegte Max besonders seine Rosen im Garten des Hauses. Auch Beerensträucher, Gemüse und Spalierobst wurde angebaut. Am Haus stand auch eine Trauerweide mit einer Sitzbank drunter. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Später zogen sie wieder eine Straße weiter in die Emil-Mayrisch Straße in Setterich. Vor dem Haus stand eine Silberpappel, das Haus war von einer Hecke gesäumt und der Weg zum Haus war damals noch deutlich schmaler als heute. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Emil Mayrisch Straße Setterich Olga Max Brunow
Meine Urgroßeltern Olga und Max wohnten u. a. in der Emil-Mayrisch Straße in Setterich (eigene Aufnahme).

Meiner Mutter und meiner Tante schenkten Olga und Max gerne Luftschokolade. Zu Weihnachten steckte Max Stöcke an die kahlen Stellen des Tannenbaums, um diesen so zu verschönern. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Am 3. Juni 1982 starb Max. Er wurde in Setterich begraben (Brunow, 1985; Kemmner, 2023). Meine Uroma Olga habe ich jedoch noch kennengelernt.


Olga Anita Sylvia Isa Taufe
Meine Uroma Olga, meine Oma Anita und ich auf dem Arm meiner Mama Sylvia zu meiner Taufe 1993 (Foto in Privatbesitz).

Ihren westpreussischen Akzent mit einem rollenden R verlor Olga nie. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023). Im nachfolgenden Video kann man den Akzent ab Minute 1:45 anhören.


Am 4. März 1995 starb auch Olga. Sie wurde neben ihrem Ehemann in Setterich begraben. (Brunow, 1985; Kemmner, 2023)


Max Olga Brunow Setterich
Das Grab meiner Urgroßeltern Olga und Max Brunow in Setterich (eigene Aufnahme).

 

Die verwendeten Quellen sind in folgendem Quellenverzeichnis aufgelistet:



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